Ergebnisse der Resilienzforschung
Ich möchte Ihnen ein Mädchen vorstellen. Es weist fast sämtliche Merkmale eines im klassischen Sinne benachteiligten Kindes auf und hat mit erheblichen Risikofaktoren zu leben. Gleichzeitig verfügt es im Sinne von Resilienz über eine satte Anzahl an Schutzfaktoren.
Das Mädchen ist 9 Jahre alt. Die Mutter starb noch vor ihrem ersten Geburtstagsfest. Ihr Vater ist viel unterwegs und kümmert sich nur sporadisch um sie. Ein Einzelkind, eine notorische Lügnerin, die regelmäßig die Schule schwänzt, gewalttätig gegen Jungs ist, morgens schläft und abends nicht ins Bett kommt. Ihre motorische Unruhe und ihr Bewegungsdrang legen eine ADHS-Diagnose nahe. Das Mädchen kann nicht lesen und nicht schreiben. Nach einer Heimeinweisung ist sie ausgebüchst und konnte nicht dazu gebracht werden, wieder dorthin zurück zu kehren.
Sie kennen das Mädchen alle, und die meisten von Ihnen dürften ein Fan von ihr sein. Ich spreche von Pippilotta Langstrumpf.
Pippi ist ein sehr schönes literarisches Beispiel für ein resilientes Kind. Bei allen Risiken, die ihre Biografie in sich birgt, verfügt sie über eine herausragende Eigenschaft: Sie hat Zugang zu ihren eigenen Stärken, sie verfügt über ein großes Repertoire an Bewältigungsstrategien. Sie denkt ausgesprochen positiv, hat viele Ideen, wie sich Probleme lösen lassen, ist wissbegierig und fragend und zeigt viel Humor. Sie verhält sich in ihren Anliegen zielorientiert und ist unerschütterlich in ihren Selbstwirksamkeitserwartungen.
Die Resilienzforschung, ursprünglich ein Forschungsansatz von Psychologen und Sozialwissenschaftlern, hat über einen Zeitraum von 40 Jahren empirisch untersucht, welche Faktoren dazu beitragen, dass sich Kinder auch unter sehr ungünstigen Umständen positiv entwickeln können.
Forschungsergebnisse belegen, dass folgende Lebensumstände explizit Indikatoren für Benachteiligtenkarrieren sind:
- Armut, einer der wesentlichsten Risikofaktoren, der zu Entwicklungsstörungen und –defiziten (Wahrnehmungsentwicklung, Sprachentwicklung) führt; Armut fördert den sozialen Rückzug;in Deutschland gelten nach einer UNICEF-Studie aus dem Jahr 2005 1,5 Millionen Kinder als arm;
- Tod – zum Beispiel der Mutterverlust in der Kindheit,
- Vernachlässigung,
- Misshandlung,
- Gewalterfahrung,
- Scheidung,
- traumatische Erlebnisse mit potentiell lebensbedrohlichem Charakter – z.B. Kriegstraumata,
- chronische oder schwere Erkrankungen,psychisch labile Eltern (Drogen- und Alkoholsucht, überkontrollierende oder umgekehrt distanzierte bis gleichgültige Mütter),
- körperliche Beeinträchtigung oder Behinderung,
- fragwürdige Kontakte zu Gleichaltrigen,
- häufig wechselnde frühe Beziehungen,
- häufiger Kontakt mit Jugendämtern
Kritisch scheint es besonders dann zu werden, wenn die Risikofaktoren kumulieren und Wechselwirkungen eintreten.
Interessanter Weise entwickeln sich viele Kinder trotz vorhandener Risikofaktoren völlig unproblematisch. Die Resilienzforschung untersucht, was diese Kinder gesund erhält. Sie stellt damit Anhaltspunkte für präventive Handlungskonzepte zur Verfügung. Wir wissen heute aufgrund der erforschten Daten mehr über schützende Bedingungen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Kind mit Problemsituationen besser fertig wird.
Was Pippi Langstrumpf auszeichnet sind Fähigkeiten, die die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychosozialen, psychologischen und biologischen Entwicklungsrisiken erhöhen.
Diese Fähigkeiten sind zum einen kindbezogen: Temperamenteigenschaften und kognitive Fähigkeiten zählen dazu. Diese sind kaum beeinflussbar.
Zum ganz überwiegenden Teil handelt es sich bei den Resilienzfaktoren jedoch um erworbene, kontextabhängige Fähigkeiten. Resilienz, so die derzeitige Auffassung, ist das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses zwischen Kind und Entwicklungsumgebung.
Es ist beispielsweise empirisch gut untersucht, dass Lehrer, die ein aktives Interesse am Schüler haben, den Strategieerwerb sehr positiv beeinflussen. Sie wirken als Mediatoren, indem sie den Kindern über ihre Person vorleben, wie sich soziale Unterstützung mobilisieren lässt. Umgekehrt kann Armut, beispielsweise über den Vater oder die Mutter, ausgesprochen destabilisierende Wirkmechanismen auslösen.
Mit ihrem interaktionellen Verhalten sind die Eltern in Grenz- und Krisensituationen gleichfalls Mediatoren für Bewältigungsstrategien. Wirtschaftliche Notlagen können bei Eltern Druck auslösen, Verbitterung, die zu feindseligen Verstimmungen führen kann. Die Konfliktbereitschaft steigt, die Streitereien nehmen zu. Die Kinder erfahren aggressive, feindselige Vorbilder, die eher hart disziplinieren und wenig unterstützen. Die so erfahrenen und häufig internalisierten Bewältigungsstrategien führen im Schulalltag direkt ins Abseits. Was sie dabei nicht lernen ist:
- mündlichen Anweisungen zuhören,
- dass Erwachsenen durchaus konsequent und folgerichtig handeln,
- dass man Bedürfnisse aufschieben kann, warten können,
- Dinge teilen,
- sich aushelfen,
- sich in andere hineinversetzen.
Die Sonderpädagogik hat es sich schon immer zur Aufgabe gemacht Kinder in ihrem Lernen und Verhalten zu stärken. Seit gut einem Jahrzehnt gehen wir dabei den Weg weg von der Defizitorientierung (nachreichen, was das Kind nicht kann) hin zur Kompetenzorientierung: erst das kultivieren, was das Kind kann und woran es Freude hat. Auf diese Weise Erfolgserfahrungen ermöglichen, die Motivation steigern, die Selbstwirksamkeitserwartungen stärken und so den Zugang zum Lernen öffnen.
Wenn wir von Individualisierung sprechen, sprechen wir von einer individuellen Lern- und Lebensbegleitung, bei der die im Alltag erworbenen Fähigkeiten identifiziert werden. Diese müssen dann für die Entwicklung schriftsprachlicher und mathematischer Kompetenzen genutzt werden.
Interessant am Resilienzkonzept ist, dass es kein spezifisch sonderpädagogisches oder schulpädagogisches ist, sondern eines, das die Gelingensfaktoren einer Biografie in den Blick nimmt. Es ist ein Wahrscheinlichkeitskonzept (kein Kausalkonzept), das die Bewältigungs- und Schutzmechanismen erfasst und somit die gesamten Lebensraum eines Kindes mit ins Boot nimmt. Es zwingt Eltern und Sorgeberechtigte, Schule, Jugendhilfe, Schulträger, Gesundheitsvorsorge, Arbeitsverwaltung, Kirchen – an einen Tisch.
Folgt man dem Resilienzkonzept, gelingen riskante Bildungskarrieren am ehesten, wenn alle Beteiligten gemeinsam die personalen Ressourcen des Kindes festigen und optimieren und dafür die geeigneten Umweltressourcen schaffen. Es geht darum den Einzelnen in die Lage zu versetzen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Was kann getan werden? Betrachten wir dazu die als stabilisierend wirkenden Faktoren etwas genauer:
Bindung und Beziehung
Wichtig ist eine stabile Beziehung zu einer primären Bezugsperson. Bindung verstanden als eine innere Bindung, durch die Kinder Vertrauen erfahren, Wärme, auch Normen (im angloamerik. Sprachraum – binding). Kinder, die eine sichere Bindung haben, suchen bei emotionaler Belastung die Nähe dieser Bezugsperson. Sie können sich dort beruhigen und sich anschließend wieder ihrer Umwelt zuwenden.
Ebenso wichtig scheint eine äußere Bindung (Bridging). Der Brückenschlag zu bedeutsamen Dritten. Beziehung in Form sozialer Kontakte zu kompetenten, fürsorglichen Erwachsenen, die Vertrauen fördern, Sicherheit vermitteln und im Sinne eines Mediators (Vorbild) positive Rollenmodelle abgeben. Bordieu spricht in diesem Zusammenhang von Sozialkapital, als einem wesentlichen Gelingensfaktor von Autonomie und Teilhabe.
Dazu gehört die Schule, sofern sie als geschätzter Lebensraum erfahren wird. Es besteht die Notwendigkeit einer intensiven Lern- und Lebensbegleitung. Konkret bedeutet dies
- Schüler mit einem entwicklungsangemessenen Leistungsstandard konfrontieren
- sie mit sinnhaften, verantwortungsvollen Aufgaben betrauen. Sie sollen erfahren, dass sie gebraucht werden und Einfluss nehmen können
- Transparente, stabile Strukturen schaffen. Was ist damit gemeint? Wissen, wer für was zuständig ist, Verbindlichkeiten, entlastende, ordnende Rituale, klare Zeit- und Raumstrukturen
- Gerechte, verständliche und einsichtige Regeln, deren Einhaltung auch durchgesetzt wird
- Anerkennung für erbrachte Leistungen – nicht primär über Noten, über soziale Zuwendung z.B., gesellschaftliche Würdigung
- Lehrer, die ein aktives Interesse an jedem einzelnen Schüler zeigen
- Lehrer, die einen Erziehungsstil leben, der unterstützend und fordernd ist und gleichzeitig eindeutige Grenzen setzt.
- Beziehung weiterhin zu anderen Lebensräumen, in denen sie ähnliche protektive Bedingungen vorfinden, wie in unseren guten Schulen: soziale Einrichtungen, Vereine, Kirche, Betriebe.
Zu dem, was an persönlichen Fähigkeiten erworben werden kann, zählen Bewältigungsstrategien. An erster Stelle muss genannt werden
Zielorientiertheit
– vor allem klare und ihrem Entwicklungsstand angemessene Ziele. Klarheit auch in den angestrebten Ergebnissen: Jugendliche sollen die Erfahrung machen, dass Aufgaben stets eine Problemstellung beinhalten, die handlebar ist, für deren Handling Strategien weiterhelfen (und keine vorab verkündeten Lösungsmuster). Dazu gehört die Erfahrung, dass es jemanden gibt, der ihnen in solchen Lernprozessen weiterhilft.
Sie benötigen dafür Felder, in denen sie ihre Interessen, Talente und Hobbys kultivieren können. Die eigenen Stärken leben, impliziert, dass persönliche Kompetenz als eine Ressource begriffen wird, mit der sich existenzielle Bedürfnisse – in der Welt zurecht kommen – einlösen lassen.
Zum Stratetegieerwerb gehört auch zu lernen das eigene Tun über die gesamte Schulzeit hinweg regelmäßig zu reflektieren und einzuschätzen. Auch zu lernen, Erfahrungen des Scheiterns sachlich zu reflektieren.
Zur Problemlösefähigkeit – bedarf es Strategien, mittels derer der Schüler sein Handeln organisieren und gestalten kann. Gefragt sind vor allem prozedurale Fähigkeiten, Fähigkeiten mit denen sich Aufgaben und Probleme lösen lassen. Es ist wichtiger, die Spaghetti und eine dazu passende Soße in einem halbwegs vertretbaren Zeitraum so kochen zu können, dass beides noch warm und genießbar ist, als über die Bestandteile einer Nudel im einzelnen Bescheid zu wissen. Prozedurale Fähigkeiten bedürfen, Handlungsstrategien, Lernstrategien und Kontrollstrategien.
Problemlöseorientierte Verfahren müssen ein Probehandeln vorsehen. „Probier es aus, dann überlegen wir, weshalb etwas geklappt hat und woran es liegen könnte, dass es nicht geklappt hat.“ Ein solches Lernen setzt Handlungs- und Erprobungsfelder voraus, in denen Schüler eigenständig und möglichst selbstgesteuert Lösungsansätze handelnd erproben können. Dafür reichen unsere Klassenzimmer nicht aus. Wir brauchen dafür Partner, die den Kindern solcher Felder Erfahrung zugänglich machen. Außenräume sind Bildungsräume
Gesundheit
Ein stabiles Immunsystem müssen wir gleichfalls zu den personalen Ressourcen von Kindern und Jugendlichen zählen. Dieses kann von Schule und Umfeld gefördert werden durch körperliche Fitness indem z.B. auf einen regelmäßigen Schlaf- und Wachrhythmus geachtet wird, auf ausgewogene Ernährung (übergewichtige Kinder – Einschränkungen!), auf sorgfältige Hygiene, auf Bewegungszeiten und sportliche Aktivitäten unter der Zielsetzung die Bewegungsfreude zu wecken.
Selbstwirksamkeit
Negative Selbstwirksamkeitserwartungen („Das kann ich nicht.“ „Ich finde ja doch nie eine Lehrstelle!“) beeinflussen die Motivation sehr nachhaltig. Motivation liegt nicht in den Genen. Motivation beschreibt vielmehr einen Prozess, der die Einleitung und Aufrechterhaltung von Handlungen steuert. Gelernt wird, was, unter anderem, emotional befriedigend wirkt. Erfolgserfahrungen, auch schulische Leistungserfolge, tragen maßgeblich dazu bei, dass Kinder ein Gefühl davon bekommen, was für sie bewältigbar und handhabbar ist. Hingegen lösen häufige Frustrationen und Versagenserfahrungen Erklärungsmuster aus, durch die alles Misslingen an der eigenen Person festgemacht wird.
Damit Kinder lernen sich selbst etwas zu zutrauen, brauchen sie Erfolge und Sie müssen lernen Ereignisse zu erklären (Kohärenzgefühl entwickeln). Salopp ausgedrückt, unterscheiden können „auf ihrem Mist gewachsen ist“ und was andere verbrochen haben.
Resiliente Kinder können erklären, weshalb etwas geklappt hat oder schief gegangen ist. Sie rechnen mit dem Erfolg eigener Handlungen. Sie glauben an ihre eigenen Kontrollmöglichkeiten und können ihr Handeln organisieren und steuern.
Zusammenfassung
Nach unserem heutigen Kenntnisstand ist Resilienz vom Kindergartenalter bis, wie Interventionsstudien mit jungen arbeitslosen Männern und Frauen in der Schweiz zeigen, ins Erwachsenenalter hinein lernbar. Je früher allerdings Kinder lernen Zugang zu ihren Stärken zu finden und je früher sie lernen Hilfen von außen anzunehmen, desto leichter fällt es ihnen eine stabile Identität aufzubauen.
Für die im Felde von Erziehung und Bildung tätigen Institutionen ergibt sich daraus der Auftrag gemeinsam protektive System weiter auszubauen
- das Familiensystem stärken
- durch Unterstützung der Eltern bei der Schaffung starker und positiver Familienbindungen
- Unterstützung des elterlichen „Monitoring“. gemeint ist, dass die Eltern wissen, welchen Aktivitäten ihr Kind nachgeht und mit wem es seine Zeit verbringt (Peer-Kontakte)
- Unterstützung der elterlichen Beteiligung am Leben ihrer Kinder – mitmachen am Schulleben, am Vereinsleben
- Unterstützung der elterlichen Bindung an Institutionen in der Gemeinde – die Eltern mitnehmen zu Veranstaltungen der Schule, des Bürgervereins, der Kirche
- Unterstützung der Eltern klare Erziehungsnormen durchzusetzen – wie wird durchgesetzt, dass 9jhrige um 20.00 Uhr im Bett sind?
Die Schule selbst muss sich als soziales Netzwerk generieren,sich in das Gemeinwesen hinein öffnen – andere Bildungsträger, andere Institutionen ins Schulhaus holen, die Gemeinschaft pflegen mit Musikschule, Theatergruppe, Musikverein etc, Anbieter von Aktivitäten ins Haus holen – Volkshochschule, Jugendpfleger, Rotkreuz, Pfadfinder, Jugenddisko, um bürgerschaftliches Engagement werben,verlässliche Partnerschaften pflegen – mit Lesepaten regelmäßigen Austausch halten, Betriebe regelmäßig kontaktieren, die Eingliederung von Kindern und Jugendlichen in Institutionen des Gemeinwesens und der Kulturarbeit aktiv betreiben, d.h. das Anliegen unterrichtlich behandeln, es mit den Sorgeberechtigten beackern und die Jugendlichen darin begleiten Anschlussmöglichkeiten an nachschulische Bildungseinrichtungen schaffen.
Manfred Burghardt
Pädagogik der Lernförderung Staatliches Seminar für Lehrerbildung Freiburg